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Experimentelle Ästhetik: Die Ausstellung

In der 1959 gezeigten Ausstellung Experimentelle Ästhetik wurden die frühesten Serien künstlerischer Arbeiten von Herbert W. Franke gezeigt, die ab 1952 entstanden waren. Sie gehören zu den heute als Generative Fotografie bezeichneten Werken, eine Fotokunst-Richtung, die sich in den fünfziger und sechziger Jahren entwickelte und den Fotoapparat für die abstrakt-algorithmische Gestaltung einsetzte. Diese Fotografen bauten auf ästhetischen Gedanken auf, die schon Künstler wie László Moholy-Nagy in den zwanziger und dreißiger Jahren entwickelt hatten. Allerdings damals noch ohne den systematischen Gestaltungsansatz, wie er dann von Franke und einer kleinen Gruppe von Künstlern verfolgt wurde, zu der auch Gottfried Jäger, Karl Martin Holzhäuser oder Hein Gravenhorst gehörten.

Im Gegensatz zur abbildenden Fotografie handelt es sich also bei solchen Werken um visuelle Erfindungen, die Formen und Strukturen zeigen, die nicht schon vorhanden waren, sondern durch besondere technische Mittel erst entstehen oder sichtbar gemacht werden. Franke faszinierten Kurven als ästhetisches Stilelement ganz besonders. Zu den physikalischen Erscheinungen, die den unterschiedlichen Foto-Serien aus dieser frühen Zeit zugrunde liegen, gehören vielfach Prozesse der Mechanik wie Schwingungen und Vibrationen sowie Verformungen unter dem Einfluss der Elastizität, und schließlich auch Moiré-Effekte an gekrümmten Flächen. Franke hat dabei aber auch mit unterschiedlichen Techniken gespielt, beispielsweise untersuchte er die ästhetische Dimension der Bilder mit Röntgenapparaten und setzte bereits einen Analogrechner mit einem Oszillographen zur künstlerischen Gestaltung ein.

Bei den Experimenten mit Grafiken, die auseinander überlagerten Kurven aufgebaut sind, hat sich H. W. Franke nicht zuletzt von seinen theoretischen Überlegungen leiten lassen. Schon in seinem 1957 erschienenem Buch Kunst und Konstruktion stellte er sein Prinzip zur Diskussion. Es beruht auf der Erkenntnis, dass Kunstwerke in ausgewogenem Verhältnis zwischen Ordnung und Unordnung angesiedelt sind, was sich später in der Informationspsychologie bestätigt hat und auch erklären ließ. Eine Folge davon bezieht sich auf den Aufbau von visuellen wie auch auditiven ästhetisch optimalen Strukturen: Setzt man dafür komplexe Elemente ein, dann muss ihre Zahl klein bleiben, um ein übersichtliches Gebilde zustande zu bringen. Und umgekehrt: Sollen sich viele Elemente zu einem komplex aufgebauten Gebilde vereinigen, dann braucht man einfache Elemente, weil die Struktur andernfalls als chaotisch empfunden wird.

Franke fand in einfachen Kurven geeignete geometrische Elemente, und zwar speziell dann, wenn diese die mathematisch definierte Eigenschaft der Stetigkeit aufweisen, also keine Unterbrechungen, Knicke oder unregelmäßige Krümmungsänderungen aufweisen. Nun sind solche Kurvenformen mathematisch leicht zu beschreiben, und auch viele in der Physik auftretend Erscheinungen sind durch stetige Verläufe gekennzeichnet. Deshalb wurden für die Werkgruppe „Kurvenscharen“ Anordnungen benutzt oder auch gebaut, die sich bei der Visualisierung durch das Auftreten stetiger Kurven auszeichnen.

Serie Lichtformen

Die Lichtformen, entstanden mit der Hilfe des damaligen Foto-Lehrings Andreas Hübner in den Labors der Firma Siemens, zeigen die Verwirklichung von abstrakten Bildideen. Im Gegensatz zur abbildenden Fotografie handelt es sich bei den Lichtformen um die Realisierung abstrakter Bildideen Herbert W. Frankes – wenn man so will, um visuelle Erfindungen. Sie schließen an die Lichtgrafik der zwanziger Jahre an, allerdings geht es hier um Motive, die unter physikalisch definierten Bedingungen systematisch entstanden. Für die Lichtformen wurden mechano-optische Eigenkonstruktionen eingesetzt. Hauptinstrumentarium waren weiß lackierte, beleuchtete Drähte, die bei offener Blende vor einem Hell-Dunkel- beleuchteten Hintergrund durch den Raum bewegt wurden. Einige Motive entstanden auch mit einer im Vordergrund aufgestellten rotierenden Scheibe mit freien Spalten, durch die hindurch der angeleuchtete Draht bei offener Blende aufgenommen wurde.

Die Serie Oszillogramme entstand mit Hilfe eines vom Wiener Physiker Franz Raimann in Abstimmung mit Herbert W. Franke gebauten Analogrechensystems, mit dem sich die grundlegenden Rechenoperationen wie Addition und Subtraktion, Multiplikation und Division sowie Differentiation und Integration ausführen ließen. Damit wurden die grafischen Elemente entwickelt, meist Kurven. Als Ausgabegerät diente ein von einem Elektronikbastler ausgeliehener Kathodenstrahloszillograf – daher der Name der Serie Oszillogramme. Zur Dokumentation der Bilder diente schließlich ein Fotoapparat. Teilweise wurde die Kamera während der Aufnahme Raum mit geöffneter Blende vor dem Bildschirm vorbeibewegt, wodurch es zu einer typischen Ausfächerung der Grundfigur kam; deshalb wurden diese Bilder mit bewegter Kamera von Franke gelegentlich auch als Pendel-Oszillogramme bezeichnet.

Die Serie Raumstudien wurde – wie die Lichtformen – durch die Bewegung elastisch verformter weißlackierter Drähte in den Raum gezeichnet. Die Beleuchtung erfolgte auch hier durch die Projektion einen Strichrasters. Dabei wurde der verformte Draht aufgehängt und in Bewegung versetzt. Durch die gestreifte Beleuchtung entstanden die Hell-Dunkel-Strukturen. Die während des Bewegungsvorgangs entstehenden Phasenbilder summierten sich bei geöffneter Blende zum vollständigen virtuellen Raumobjekt. Dabei wurden sowohl rotationssymmetrische wie auch translatorisch aufgebaute geometrische Strukturen untersucht.

Zur Vorbereitung der Bandformen wurden transparente Folienstreifen in Längsrichtung mit parallel ausgerichteten schwarzen Linien versehen. Sie wurden gekrümmt und verdrillt und dann ihre Enden so miteinander verbunden, dass geschlossene Bänder zustande kamen. Durch die natürliche Elastizität des Folien-Kunststoffs nahmen sie dabei einen energiearmen Zustand ein, wobei die von selbst entstehende Gleichgewichtsform durch stetige Kurven beschrieben wird. Die Bänder wurden vor dem Hintergrund einer von unten beleuchteten Milchglasscheibe fotografiert und bildeten damit dunkle Kurven. Markante Stellen der Konfigurationen sind jene, an denen sich in der perspektivischen Darstellung die Kurvenscharen kreuzen.

Diese Serie beruht auf einer besonderen optischen Erscheinung, den sogenannten Moirés. Man kann sie sehen, wenn man beispielsweise durch gerippte transparente Vorhangstoffe hindurch blickt. Durch die Überlagerung der Linien ergeben sich sekundäre Muster und Scheinbewegungen, die den optischen Täuschungen verwandt sind. Sie waren auch Gegenstand mathematischer Berechnungen, wobei sich die erstaunliche Tatsache ergab, dass die sekundären Muster Vergrößerungen der ursprünglichen Musterung sind. Zur Untersuchung ihrer ästhetischen Wirkung wurden zwei mit parallelen Geraden bedruckte Transparentfolien übereinander gelegt, was zunächst zu wenig interessanten gleichmäßigen Mustern führt. Durch leichtes Anheben und Verkrümmen der oben liegenden Folie, die dabei infolge ihrer Elastizität eine stetig geformte Raumfläche bildet, lässt sich aber die Komplexität der Strukturen bis zu einer optimalen ästhetischen Wirkung erhöhen. Die fotografische Dokumentation erfolgte wieder vor einem Leuchtschirm.

Serien Röntgen | Ultralicht

Die frühesten Anstöße, sich mit künstlerischen Experimenten zu befassen, erhielt H. W. Franke, also er sich im Rahmen seiner Dissertation mit Elektronenoptik beschäftigte. Die ästhetische Qualität der Bilder aus dem Elektronenmikroskop brachten ihn auf den Gedanken, dass sich Instrumente der wissenschaftlichen Fotografie auch für Experimente einsetzen ließen, die nicht der Forschung dienen, sondern der Erzeugung ästhetisch interessanter Bilder. Und er spielte auch mit dem Gedanken, diese Art von Laborgeräten zu Kunstmaschinen umzubauen. Seine kurzfristige Tätigkeit in der Industrie ermöglichte ihm Versuche nicht nur mit üblichen Röntgenstrahlen. So setzte er in einer de beiden Röntgen-Serien „Weichstrahlen“ ein, wie sie in der Medizin zur Bestrahlung der Haut gebraucht werden. Damit blickte er in das Innenleben von Früchten und Pflanzen. In der zweiten Serie setzt er harte Strahlung ein, normalerweise in der Werkstoffprüfung eingesetzt, mit der sich Stein und Stahl durchleuchten läßt. Seine Objekte dagegen waren Gegenstände des Alltags wie ein Zigaretten-Etiu, eine Schreibmaschine oder ein Eierbecher. Was da zum Vorschein kam, wies ganz andere ästhetische Qualitäten auf als gewöhnliche Fotografien dieser Objekte. Das gilt besonders für die in der Durchstrahlung gewonnene Transparenz. Die ungewohnte Sicht der Dinge regt zu weiter führende Gedanken an: So weisen diese Bilder darauf hin, dass die Art unserer visuellen Wahrnehmung nur eine mögliche Sicht der Welt unter vielen ist, eine Sicht, die nur Teilaspekte von jenem Ding an sich zeigt, das dahinter im Verborgenen liegt. Die Bilder entstanden zum Teil in Zusammenarbeit mit dem Röntgenexperten Helmut Volland.

Beim Arbeiten mit der Spritzpistole fiel Franke auf, dass sich Gegenstände, die nicht flach auf dem Untergrund liegen, sondern sich ein wenig oberhalb befinden, viel detailreicher abbilden, als man erwarten würde. Erstaunlicherweise sind dann auf der Darstellung sogar Details der dem Sprühstrahl entgegen gerichteten Oberfläche zu sehen – als wäre ein Blick um das Objekt herum gelungen. Lässt man die Spritzpistole über den Gegenstand wandern und sprüht dabei genau senkrecht von oben, so dass sich die Geometrie des Strömungsverlaufs nicht ändert, dann wird dieser Effekt besonders deutlich. Der physikalische Hintergrund: Der Strahlengang verläuft nicht wie gewohnt geradlinig, sondern folgt den Strömungslinien, die sich der Oberfläche rundum anschmiegen. Das führt zur überraschenden Einsicht, dass auch ein Strömungssystem abbildende Wirkungen haben kann – eine Tatsache, die vielleicht mit dem Orientierungsvermögen von im Wasser lebenden Tieren zusammenhängen könnte. Unabhängig davon entstehen aber auf diese Weise visuell reizvolle Bilder, die auf eine dritte Möglichkeit, unsere Welt zu sehen, hinweisen – neben den optischen Abbildern und den Röntgentransparenten.