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Die Ästhetik glatter Kurven

Historischer text aus dem Jahr 1998 von herbert w. franke – „über die Stetigkeit in Mathematik und Kunst“

Ordnungsbeziehungen wie die Symmetrie haben große Bedeutung für die Kunst. In meinem Buch Kunst und Konstruktion, das 1957 erschien, wies ich darauf hin, dass speziell in der bildenden Kunst neben der Symmetrie noch eine andere Ordnungsbeziehung, die ebenso wie diese mathematisch erfassbar ist. Ich nenne das Stetigkeit und beziehe mich dabei auf den mathematischen Begriff „Stetigkeit“ für Funktionen, die stetig differenzier sind. Sie bezieht sich insbesondere auf Linien und Kurven und äußert sich vor allem in deren Gleichmaß: Stetige Kurven haben einen glatten Verlauf, ein Gleichmaß ohne Unterbrechungen, Knicke oder plötzliche Richtungsänderungen. Ich versuchte diese Eigenschaft damals als ‚Eleganz‘ der Linienführung zu beschreiben. Das hätte ich lieber nicht tun sollen, denn ein Kritiker riet mir, die Eleganz den Schneidern zu überlassen.  

Beispiel 1: dynamische Kurven-Kalligrafie
Mathematica | Serie Slings (2007)

Meine Einschätzung der Stetigkeit war damals Ergebnis eigener Beobachtungen, und als Physiker versuchte ich, sie durch Experimente zu erhärten. Ich benutzte mechanische, optische und elektronische Systeme, um Bilder aus stetigen Kurven aufzubauen, und die Tatsache, dass sie in Kunstzeitschriften und -ausstellungen gezeigt wurden, nahm ich als Bestätigung meiner Ansicht.

Beispiel 2: verdrillte, an den Enden zusammen geklebte und mit geraden Linien bemalte durchsichtige Kunststofffolie
Bandformen (1953/54)

Das Thema der Stetigkeit hat mich auch weiterhin beschäftigt, und ich habe es kürzlich wieder aufgegriffen, weil man inzwischen auch Erklärungen für die ästhetische Wirkung solcher Gebilde angeben kann. Das liegt besonders in der Informationspsychologie, mit der sich zeigen lässt, dass Ordnungen wie Symmetrie und Stetigkeit unabhängig von der Kunst die visuelle Wahrnehmung – den Übersichtsgewinn über den Bildeindruck – erleichtern und beschleunigen. Es ist eine Fähigkeit, die sich durch die Evolution herausgebildet hat und schon in den frühesten Stadien menschlicher Existenz überlebenswichtig war.

Beispiel 3: ornamentale Kurven
Werkgruppe Mathematica | Serie El Milik (2007)

Da sich die Stetigkeit mit mathematischen Mitteln erfassen lässt, bietet sich die Methode der Computergrafik als Mittel einer experimentellen Ästhetik an, mit der man am konkreten Fall Wirkungen von Kunst untersuchen kann. Ich habe mir das klassische Ornament als Objekt meiner Experimente ausgesucht und dazu Bildgeneratoren programmiert, die Überlagerungen stetiger Kurven hervorbringen. Ein beachtliches Ergebnis ist es, dass eine Art Äquivalenz zwischen den zum Aufbau der Bilder verwendeten Elementen und dem aus ihnen aufgebauten Gebilde bestehen muss, um optimale visuelle Ergebnisse zu erzielen. Verwendet man als Bildelemente Einheiten hohen Ordnungsgrades – also solche, deren Aufnahme mühelos gelingt –, dann kann man das Bild selbst komplizierter gestalten, was das Wahrnehmungserlebnis intensiviert. Aber das ist ein anderes Thema. Eine gelingende Übersicht über den aktuellen Sichteindruck ist emotional positiv besetzt, und das betrifft unter anderem auch die Wirkung von Kunst auf den Betrachter. Man kann Kunstwerke als Gebilde ansehen, die so aufbereitet sind, dass sie die Aufmerksamkeit des Adressaten erregen, ihn dazu herausfordern, sich mit dem Wahrnehmungsangebot zu beschäftigen, und schließlich zu gelingenden Wahrnehmungsprozessen führen.