Leitmotiv I: Kunst als Wahrnehmungsprozess
Leitmotiv II: Suche nach der Grammatik von Kunst
Leitmotiv III: Kunst zwischen Information und Zufall
Herbert W. Frankes Schaffen war stets von der rationalen Durchdringung dessen geprägt, was Kunst ist. Als Student der Physik hatte er im Studium gelernt, wie die exakten Naturwissenschaften nach universellen Erkenntnissen über ein Forschungsgebiet suchen. So versuchte er dieses Vorgehen auch für die Analyse von Kunst zu nutzen. Sein besonderes Augenmerk gehörte dabei der abstrakten Kunst, die offensichtlich auch ohne inhaltliche Komponente bewertet werden kann. Werke ohne diese semantische Ebene lassen sich naturwissenschaftlich einfacher untersucht werden, denn für sie ist nur die bildhafte Struktur als solche Kriterium der Analyse. Genau hier setzte Franke an. Dieser Zugang unterscheidet sich erheblich von dem der traditionellen Kunsttheorie, die sich Werken aus der Richtung der Kunstgeschichte nähert. Im kybernetischen Ansatz eines Abraham Moles oder Karl Steinbuch sowie in den informationsästhetischen Gedanken von Max Bense fand Franke den Ausgangspunkt für seine eigenen Überlegungen, in denen er den Informationsaspekt mit der Psychologie verband. Anders als beispielsweise der Mathematiker Bense suchte Franke damit nicht nach dem „abstrakt-absoluten Kunstwerk“, sondern interpretierte Kunst in seinem Kunstmodell als evolutionäres Phänomen subjektiver Wahrnehmung. Was Kunst ist, entscheidet für Franke also nicht der Künstler allein, sondern stets auch der Betrachter oder, allgemein gesprochen, der Adressat. Dieser kann dabei – abhängig von individuellen Vorkenntnissen und den in seiner Umwelt subjektiv gelernten neuronalen Strukturen – zu abweichenden Bewertungen kommen.
Kunst als Wahrnehmungangebot für alle menschlichen Sinne
Franke fand mit diesem Ansatz für so verschiedene Dinge wie Bildende Kunst, Musik, Literatur eine ästhetische, wenn auch nur abstrakt fassbare Klammer. Künstlerische Erzeugnisse, so heterogen sie sein mögen, sind samt und sonders ein Wahrnehmungsangebot, das ausschließlich über die Sinnesorgane möglich ist und nur durch diese definiert werden kann. Und sie folgen damit den gleichen Strukturbildungs-Kriterien wie die Natur und die Biologie. Diese Strukturen lassen sich mathematisch vereinfacht beschreiben. Mathematik ist damit nicht nurdie Grundlage der Natur, sondern auch jeder abstrakt-künstlerischen Gestaltung vonder Generativen Fotografie bis zur algorithmisch bestimmten NFT-Kunst.
Die Untersuchung von Wahrnehmungsprozessen ist traditionell ein Gebiet der Psychologie, das heute in die neuronale Hirnforschung übergegangen ist. Ihre experimentelle Quantifizierung war erstmals mit der in den 1960er Jahren aufkommenden Datenverarbeitung möglich, der nicht nur unsere Computer folgen. Die Psychologie stellte fest, dass auch in unserer Wahrnehmung im Gehirn unterschiedliche Datenraten verarbeitet werden: So kann das Gehirn beispielsweise die über das Auge aufgenommenen Umweltinformationen in wesentlich höheren Datenraten pro Sekunde verarbeiten als die über das Ohr ins Gehirn strömenden Informationen. In diesem vorgelagerten Prozess kommt es durch Analyse, Filterung und Umcodierung der Information zu einer erheblichen Reduzierung der Daten. Denn nur so ist der Mensch in der Lage, ohne Zeitverzug zum Beispiel auf Gefahren reagieren zu können. Ein großer Teil dieser verarbeiteten Daten geht anschließend garnicht ins Bewusstsein, sondern in unterbewusste Zentren, in denen u.a. Reflexe ausgelöst werden, etwa zur Steuerung der Emotionen. Die ständige Weiterverarbeitung und Veränderung der neuronalen Daten – sei es auf bewusster oder unbewusster Ebene -, die wiederum durch laufend neuen Input von der Außenwelt stimuliert sind, bezeichnen wir als Lernen. Ins Bewusstsein, das als Arbeitsspeicher anzusehen ist, gelangt nur jener winzige Teil von Informationen, der aufgrund besonderer Kennzeichen – beispielsweise durch ihren innovativen, ungewöhnlichen oder auch Gefahr assoziierenden Charakter – als besonders wichtig erkannt wird. Hier beginnt der letzte und komplizierteste Schritt der Analyse: jener, der bewusst vollzogen wird. Dazu werden die uns bekannten Denkstrategien herangezogen, speziell auch mit Hilfe des Vorwissens. Für diese kognitive Verarbeitung werden – ausgelöst durch Assoziationen – zahlreiche Inhalte aus dem Kurzzeitgedächtnis und dem Langzeitgedächtnis ins Bewusstsein zurück gerufen und für bewusste Entscheidungsprozesse herangezogen.
Wie jedes datenverarbeitende technische System ist auch das neuronale Netz des Menschen bestimmten physikalisch bedingten Restriktionen unterworfen, beispielsweise begrenzten Arbeitsgeschwindigkeiten wie auch begrenzten Speicher- und Durchflusskapazitäten. Im Durchschnitt sind diese Werte, die sich im Rahmen der Evolution entwickelten, so bemessen, dass der Mensch damit die Komplexität der wahrgenommenen Umwelteindrücke stets gut erfassen kann. Die Komplexität der Reizmuster kann das System aber auch überfordern; es zeigt sich, dass dann mit Hilfe bestimmter Methoden, beispielsweise aufgrund von Näherungsprozessen oder Wahrscheinlichkeitsannahmen, oft dennoch in der erforderlichen Zeiteinheit brauchbare Resultate erzielt werden. Gelegentlich stößt der Mensch aber auch auf Informationsquellen, von denen ein Informationsfluss ausgeht, der der Aufnahmefähigkeit des Bewusstseins recht gut entspricht. Solche Reizmuster lösen Emotionen aus, die dazu führen, dass der Mensch das wahrgenommene Phänomen als schön empfindet. Trifft ein Kunstwerk also die beschriebenen, individuell höchst unterschiedlichen Bedingungen für eine optimale bewusste Informationsaufnahme, dann wird es für den Empfänger zur Kunst. Das zeigt gleichzeitig, dass das absolute Kunstwerk nicht existieren kann, da es vom stark divergierenden Wissen des Individuums abhängt.
Gleichzeitig ist Kunst nicht losgelöst von dem, was um uns herum ist – sei es natürlichen, sei es künstlichen Ursprungs – zu untersuchen. Denn Wahrnehmungsprozesse der Kunst sind immer getrieben von den Wahrnehmungsprozessen aus der Umwelt.
Das Mehrebenen-Modell der Kunst – Beispiel Literatur
Doch die Rezeption von Kunst ist nur die eine Seite der Betrachtung. Denn die Rezeption geschieht im Augenblick. Bei Kunstwerken findet jedoch eine Wirkung statt, die über den Augenblick der ersten Wahrnehmung hinausreicht. Das hat Franke mit dem Mehrebenen-Modell beschrieben. Wie kann er aus informationsästhetischer Sicht erreichen, dass sein Werk nicht nur im Augenblick der Rezeption wirkt? Dafür nutzte der Künstler bisher vor allem intuitive, unbewusste Methoden. Doch die Informationsästhetik bietet ihm nun erstmals in der Geschichte der Künste auch eine rationale Grammatik als Leitlinie. Sie beruht auf der Tatsache, dass der Mensch imstande ist, sich selektiv auf verschiedene Bedeutungsebenen eines Informationsangebots zu konzentrieren. Wenn nun jede davon den Bedingungen für optimale Wahrnehmung gemäß konfiguriert ist, bietet das Werk bei erneuter Präsentation das Auslesenanderer, bisher nicht wahrgenommener Daten aus zuvor unbeachteten Bedeutungsebenen. Mit Hilfe dieses Mehrebenen-Modells ist es für den Künstler möglich, unterschiedliche Wirkungsebenen seiner Werke zu bedienen. Das spielte für Franke beispielsweise als literarischer Autor eine zentrale Rolle. Er versuchte stets, die Ebene der spannenden Handlung durch weitere Ebenen zu ergänzen. Dazu zählte beispielsweise die Gestaltung der Räume und Landschaften, in denen die Figuren handeln, aber ebenso die dahinter liegende interpretative Ebene, die den Kontext gesellschaftlicher Mechanismen betrifft und das tiefergehende „Weiterdenken“ der zurundeliegenden Problematik mit ihrem Bezug zum Heute ermöglicht. Diese literarischen Mehrebenen-Angebote kann der Leser auf individuelle Weise nutzen. Sprache ist für Franke daher kein Selbstzweck. Schon von Anfang an herrschte in seinen literarischen Arbeiten ein klarer, nüchterner Stil, sein heutiges Markenzeichen, das am Anfang von manchem Kritiker negativ angemerkt wurde.
Die Grammatik der Kunst – Beispiel Musik und Bildende Kunst
Für Franke steht hinter jedem Kunstwerk ein mathematischer Code. In der Musik wird dieser durch die Partitur mit Noten definiert. Er basiert auf der Wahrnehmung von Tönen und ihren wahrnehmungsbedinten Zusammenhängen. Doch nicht nur in der Musik gibt es eine Grammatik, auch hinter jedem visuellen Kunstwerk steht etwas Vergleichbares, davon ist Franke überzeugt. Das, was man landläufig und eher vage als die „Handschrift eines Künstlers“ bezeichnet, ist der meist unentdeckte und wesenltich komplexere „mathematische Code“ hinter einem visuellen Werk, der auch für die Bildwelt immer weiter entschlüsselt werden wird: basierend auf einer Grammatik der optischen Wahrnehmung, mit der der bildende Künstler in Zukunft wie schon heute der Komponist arbeiten und gestalten kann.
Diese optische Grammatik, für die Symmetrien – wie sie beispielsweise in Kaleidoskopen entstehen und mit denen Franke auch in Serien wie Intarsia ästhetisch experimentierte – ein einfaches Prinzip darstellen, wird dann wie die musikalische Notenschrift abstrakt-mathematisch erfassbar. Ein weiteres Element dieser visuellen, schon heute mathematisch beschreibbaren Grammatik ist für Franke neben der Symmetrie auch die Stetigkeit glatter Kurven, mathematisch handelt es sich dabei um Funktionen, die stetig diffenzierbar, also c1-stetig sind. Diese von ihm der einfachheit halber genannte Stetigkeit hielt er für die Wahrnehmung des Menschen für ebenso bedeutend wie die Symmetrie. Er analysierte sie in vielen künstlerischen Experimenten hinsichtlich ihrer ästhetischen Dimension. So können solche übergreifenden mathematischen Regeln solcher Notenschriften künftig für jegliche Kunstgestaltung zum Einsatz kommen. Auch wenn sich uns diese komplexe Mathematik visueller Kunst heute weitgehend noch nicht erschließt, liegt für Franke in jedem Werk immer eine mathematisch beschreibbare Struktur für die optische Wahrnehmung zugrunde. Und die bezeichnet Franke als den „Kern“ eines Kunstwerkes. Besonders deutlich tritt dieser Kern bei der Computerkunst hervor, die per se algorithmisch gefasst ist. Dieser algorithmische Code bildet für Franke den eigentlichen künstlerischen Wert digitaler Arbeiten, das ausgedruckte Werk der Computerkunst ist insofern „nur“ eine von vielen Manifestationen dieses Algorithmus.
Information und Zufall in der Kunst
Mathematisch betrachtet, handelt es sich bei einer Grammatik um eine den Informationsgehalt reduzierende Methode, da sie durch die formalisierte Beschreibung Varianten bestimmter Zusammenhänge zu einem Cluster zusammenfasst, die die gleichen Strukturmerkmale aufweisen. Die Methode ist nicht nur in der Mathematik bekannt, sondern spielt auch im Gehirn eine wesentliche Rolle, wenn es um die rasche Verarbeitung von Sinneseindrücken zu neuronalen Strukturen geht, die auch schnelle Entscheidungen erlauben.
Doch für Franke spielt in der Kunstgestaltung neben der Sturkturbildung stets auch der Zufall eine große Rolle. Franke schafft seine eigenen Werke im Spannungsfeld zwischen dieser rationalen Analyse mit Methoden der Wissenschaft – dazu zählen Aspekte wie Algorithmen gestalterisch zu entwickeln, Versuch und Irrtum durchzuspielen -, aber auch den Zufall als kreatives Moment in der Kunst gezielt zu nutzen wie beispielsweise bei dem PC-Programm Gramus aus dem Jahr 1980 mit dem Zusammenspiel von Zufallsprozessen und Symmetrien.
Dieses Wechelspiel von analytischer kognitiver Arbeit mit dem Einfluss von Zufall kann man als Leitlinie durch Frankes gesamtes künstlerisches Werk nachvollziehen – nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der Literatur: Denn mit seinen Modellen möglicher Zukunftsszenarien folgt Franke in der Science Fiction genau diesen Prinzipien.
Kunst als Lernprozess für „Kunstproduzenten“ und „Kunstempfänger“
Aus den beschriebenen Überlegungen lässt sich aber auch eine Erkenntnis über den gesellschaftlichen Nutzen der Kunst ableiten: Gelingende Wahrnehmungsprozesse haben in den heutigen Zivilisationen nicht mehr die Bedeutung als Mittel des Überlebens wie einst beim Menschen in freier Wildbahn, wo man auf Gefahren reagieren und ständig „auf der Hut“ sein musste. Trotzdem gerät auch der Angehörige moderner Lebensgemeinschaften oft in Situationen, zu deren Bewältigung er die Fähigkeiten des raschen Wahrnehmens von Zusammenhängen benötigt. Die Rezeption von Kunstwerken, die psychologisch nichts anderes als einen kongitiven Lernprozess darstellt, trägt einiges dazu bei, dass diese Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen auch in Zukunft geschult werden – nicht mehr durch Gefahrensituationen, denen der Mensch ausgesetzt ist, sondern durch ästhetische Angebote, die er zum Vergnügen aufnehmen kann. Insofern spricht Franke der Kunst und dem Künstler auch für die moderne Gesellschaft eine wichtige Rolle zu.