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Das Schichtenmodell der Stalagmiten

Herbert W. Franke – historischer Forschungstext aus DEM JAHR 1999 – VERöffentlicht in:
„Die höhle, zeitschrift für karst- und höhlenkunDe“, 51. Jg., Vol. 2/2000 – Download der Publikation
Fotokunst eines Höhlensinters von Herbert W. Franke . Die fotografische Dokumentation der Schönheit der unsichtbaren Strukturen unter der Erde war Auslöser für Frankes generative Kunstexperimente.

Die formbildenden Prozesse bei der Entstehung von Höhlensinter sind heute im Prinzip bekannt [Dreybrodt 1980, Buhmann und Dreybrodt 1985, Dreybrodt und Franke 1987]. Zu den wichtigsten Einsichten gehört es, dass Boden- und Deckensintergebilde einen grundsätzlich verschiedenen Formenschatz aufweisen. Insbesondere beim Bodensinter ist der schichtenweise Aufbau besonders deutlich ausgeprägt [Franke 1956 u. 1961]. Was als äußeres Erscheinungsbild auftritt, ist nichts anderes als die Oberfläche der obersten Schicht. Doch auch die Form der darunterliegenden Schichten, die dem Sichteindruck normalerweise verborgen bleibt, ist von wissenschaftlichem Interesse, da sich darin klimaabhängige Sedimentationsprozesse, eine Art Klimakalender, abzeichnen. Besonders wichtig ist die Lage der Schichten auch, wenn es darum geht, die besten Stellen für Probeentnahmen für chemische Untersuchungen oder für Datierungszwecke zu entnehmen.

Aus verschiedenen Gründen ist eine Berechnung des Schichtenbilds schwierig oder unmöglich, dagegen lässt sich mit Hilfe der computerunterstützten Simulation ein guter Einblick in die innere Struktur erzielen. Die ersten Versuche stammen von Dreybrodt und Lamprecht [Dreybrodt u. Lamprecht, ung. 1980], die dazu das spezielle Simulationsprogramm Simula einsetzten; als Ergebnis erhielten sie Querschnitte durch Bodenzapfen. Im Folgenden wird beschrieben, wie eine solche Simulation des Schichtenbilds der Stalagmiten auch mit Hilfe üblicher PCs durchgeführt werden kann. Das dazu eingesetzte Programmsystem Mathematica erlaubt es überdies, von den Querschnittbildern zu räumlich-perspektivischen Ansichten überzugehen. Dabei wird ein rotationssymmetrischer Aufbau vorausgesetzt.

Selfie von Herbert W. Franke um 1960 in einer mit Magnesiumlichtquellen ausgeleuchteten Tropfsteinhöhle in der Fränkischen Schweiz.

Dem Beispiel von Dreybrodt folgend wird davon ausgegangen, dass das Kristallwachstum stets senkrecht auf die Basisfläche erfolgt. Daraus ergibt sich ein System orthogonaler Trajektorien, das sich in Abhängigkeit von der gewählten Auflösung in beliebiger Näherung dargestellten lässt. Setzt man Rotationssymmetrie voraus, dann kann man das Problem auf zwei Dimensionen beschränken. Zur Erfassung der Geometrie bedarf es noch einer Abfallkurve, die die pro Zeiteinheit abgesetzte Schichtdicke beschreibt. Wegen der vielen, lokal wechselnden Einflussfaktoren lässt sich diese nicht ableiten, vielmehr ist nach jener zu suchen, die die beste Beschreibung liefert. Da die Absetzung des Karbonats dem Ungleichgewicht, zwischen dem in der Lösung bzw. in der Luft enthaltenen Kohlendioxid proportional ist und dieses sich im Laufe des Abrinnens der Lösung ausgleicht, sind die abgesetzten Schichten an der Achse am größten und werden gegen die Peripherie zu immer dünner. Dieser Fall entspricht vielen anderen in Physik und Chemie bekannten Prozessen und wird normalerweise mit Hilfe einer sogenannten negativen e-Potenz beschrieben. Während sich Dreybrodt für eine lineare Funktion entschieden hat, wird hier eine quadratische eingesetzt – da sich die Lösung über eine Fläche verbreitet, ist ein quadratisches Abfallgesetz wahrscheinlich. Das im Folgenden wiedergegebene Programm gestattet es, verschiedene Abfallfunktionen probeweise einzusetzen und am Ergebnis zu kontrollieren. Im Übrigen stellt sich heraus. dass – wie schon früher erkannt wurde [Franke 1956] – verschiedene Funktionen zu keinen wesentlichen Unterschieden führen; bei allen stellt sich während des Wachstums bald eine stationäre Situation ein – in dem Sinn, dass sich haubenförmige Schichten einheitlicher Form senkrecht übereinander stülpen.

simulierte Höhlenlandschaft mit Tropfsteinen

Die angeführten Bildbeispiele zeigen, dass sich die Simulation auch veränderlichen Situationen anpassen lässt, insbesondere einer Änderung der Lösungs-Zufuhrgeschwindigkeit, die deshalb interessant ist, weil sich in ihr die Humidität der betreffenden Klimaphase spiegelt: Der Durchmesser eines Stalagmiten ist der pro Zeiteinheit zugeführten Lösungsmenge – unabhängig von deren Konzentration – proportional. Im Laufe des Wachstums abnehmende Durchmesser, die zu Kegelformen führen, deuten auf eine Klimaphase zunehmender Trockenheit. Anwachsende Durchmesser, die auf der Spitze stehende Kegel aufbauen, lassen auf einen Anstieg der Feuchtigkeit schließen; allerdings entstehen dabei überhängende Begrenzungsflächen des Stalagmits, für die nicht mehr die Wachstumsregeln des Bodensinters, sondern jene des Deckensinters maßgebend sind. Folge davon ist, daß solche Gebilde in der Natur zwar vorkommen, jedoch, da sie von Vorhängen verdeckt werden, nicht zu beobachten sind.

Zum 98. Geburtstag des Visionärs Nerbert W. Franke. Das Schichtenmodell der Stalagmiten - ein Forschungsbericht mit simulierten Höhenräumen aus dem Jahr 1999.
simulierte Höhlenlandschaft mit Tropfsteinen

Bei Computersimulationen von Naturvorgängen sind Vereinfachungen unabdingbar; es kommt dann darauf an, inwieweit sie die wesentlichen Eigenschaften des betrachteten Phänomens beschreiben. Eine Vereinfachung bei der Modellierung von Stalagmiten ist die vorausgesetzte Rotationssymmetrie. Wenn man nur einzelne Sintergebilde betrachtet und Überlagerungen außer Acht lässt, dann wirkt sich diese Maßnahme nur in der Initialphase des Wachstums aus, die darauf ansetzende stationäre Form erweist sich, wie erwähnt, als eine eindeutige Funktion der berücksichtigten Parameter, unabhängig von der Form des Untergrunds und der untersten Schichten. Man kann den Modell-Stalagmiten also auf einer ebenen Basisfläche aufwachsen lassen und stellt trotzdem jene Formen richtig dar, die in Naturhöhlen ins Auge fallen. Das Programm erlaubt allerdings auch die Annahme eines unebenen Bodens, soweit die Rotationssymmetrie beibehalten wird. Dabei ist allerdings darauf zu achten, dass die Höhenkoordinaten der Stützpunkte stetig abfallen; andernfalls würde jener Fall eintreten, bei dem sich die Lösung in Vertiefungen sammelt, so dass die Grundvoraussetzung der Kalkausscheidung bei Bodenformen – jene aus dünnen Filmen – nicht mehr gegeben wäre. Auf diese Weise kann man sich auch durch Simulationsversuche davon überzeugen, dass die stationären Formen von der Auflageform unabhängig sind. Im Übrigen wäre es möglich, das Programm auf den asymmetrischen Fall zu erweitern, allerdings mit einer gehörigen Steigerung des Rechenaufwands. Mit solchen Programmen ließen sich dann auch Ensembles von Stalagmiten mit Überlagerungen, wechselnden Quellpunkten usw. darstellen.

Eine andere Vereinfachung betrifft die Genauigkeit der Darstellung, die im betrachteten Fall von der Zahl der Stützpunkte und der Dicke der übereinander angeordneten Schichten abhängt. Prinzipiell kann man mit beliebig feinen orthogonalen Netzen rechnen und sich dabei dem wirklichen Zustand beliebig nähern – allerdings ist dem durch steigende Rechenzeit und Speicherbedarf bald eine Grenze gesetzt.

Höhlenfotos von Herbert W. Franke …
… bei Forschungsexpeditionen …
… in den 1960er und 70er Jahren.

Die wählbaren Anfangsbedingungen drücken sich durch folgende Parameter aus:

dic ……. Dickenzuwachs der Schicht pro Zeiteinheit
pz …….. Zahl der Stützpunkte
rep ……. Zahl der Schichten
xfolge … x-Koordinaten der Stützpunkte
yfolge … y-Koordinaten der Stützpunkte

Das dreidimensionale Wachstum von Kerzenzapfen (Abbildung 1+2) und Sinterkegeln (Abbildung 3+4).

Im iterativen Abschnitt (do-Schleife) werden von den Stützpunkten aus senkrechter Gerade zur nächsten Generation von Stützpunkten gezogen. (Anm. d. Red: der komplette Code ist in der ersten publizierten Version des Artikels in „Die Höhle“ abrufbar). Dazu wird der Dickenzuwachs pro Zeiteinheit dicke[ ] berechnet, wobei j die Nummer des aktuellen Stützpunkts angibt. In der Abfallfunktion dic * Exp[-(bogenlänge[ j ] / r)^2] ist r dem Radius der stationären Abschnitte der Bodenzapfen gleich. Der mit if eingeleitete Teil des Programms erlaubt die Anpassung an verschiedene Bildungsbedingungen, u.zw. mit konstanter, stetig veränderlicher oder abgestufter Wasserzufuhrgeschwindigkeit. Im abschließenden letzten Abschnitt werden die Stützpunkte für den nächsten Lauf der Schleife in passende Form gebracht. Da sich die achsennahen Trajektorien im Laufe der Iteration mehr und mehr nach außen neigen, vergrößern sich ihre Abstände so sehr, daß der Linienzug, mit dem die Schichtoberfläche beschrieben wird, zu stark vergröbert wird. In ähnlicher Weise wie bei Dreybrodt werden daher neue Trajektorien zwischengeschoben; um die Zahl der Stützpunkte nicht zu erhöhen, wird dann der äußerste der Reihe entfernt.

Als Ergebnis erhält man Querschnitte durch Bodenzapfen, in denen der Schichtaufbau sowie die Kristallisationsrichtung zu erkennen sind. Natürlich lässt sich jede Schichtfläche einzeln berechnen und ausgeben, speziell jener der äußersten Schicht, die die Oberfläche des Stalagmiten wiedergibt.

Die beschriebene Vorgehensweise, deren Details im Programm ersichtlich sind, lässt sich sinngemäß auch auf andere mathematische Programmsysteme übertragen, von denen die meisten auch entsprechende Möglichkeiten grafischer Visualisierung bieten.

Drei Höhlen-Visualisierungen von Herbert W. Franke: Das Wachstum der Sinterformen wurde zuerst mit der Software Mathematica simuliert und die Objekte anschließend mit der Software Bryce in eine dreidimensionale Landschaft mit Licht- und Schattenreflexen eingebaut.

Zum wissenschaftlichen Aspekt der Sinterformen ist in letzter Zeit noch ein weiterer hinzugekommen, u.zw. die realistische Darstellung von Höhlenräumen. Für pädagogische Zwecke beispielsweise wäre die Möglichkeit, das Wachstum von Tropfsteinen im Zeitraffer darzustellen, höchst interessant, doch auch an computeranimierten Fahrten durch Höhlenraume für Filme oder Computerspiele besteht Interesse. Dabei wird die grundsätzliche Frage berührt, wie weit computergenerierte Nachbildungen natürlicher Objekte dem vorgegeben Formenschatz überhaupt entsprechen müssen. Im Fall von Gebirgslandschaften beispielsweise begnügt man sich meist mit einem fraktal gegliederten Relief – eine Vereinfachung, die sogar mancher Laie als unecht empfindet. Auch Clifford Pickover, von dem sehr eindrucksvolle computergenerierte Simulationen von Höhlenräumen stammen [Pickover 1998], beschränkt seine Darstellung auf die mathematisch und computergrafisch viel leichter erfassbaren Deckenformen und stellt die Bodenformen als Spiegelbilder der Deckenformen dar.

Programmiertechnisch ist es leicht, die mit der Software Mathematica aufgebauten Stalagmiten in computergrafisch erzeugte Bilder von Höhlenräumen zu importieren und damit auch den Bodensinter realistisch darzustellen. Gute Voraussetzungen dafür bietet das Programmsystem Bryce, mit dem sich realistische Geländeformen herstellen lassen – z.B. erodierte Bodenpartien. Es bietet weiter eine breite Palette von Farben und Texturen, die man einzelnen Objekten oder Objektgruppen zuordnen kann. Schließlich lassen sich in den dreidimensional-perspektivisch konzipierten Räumen Lichtquellen positionieren, um die Szene gut auszuleuchten – eine Aufgabe, die in frappanter Weise jener des Höhlenfotografen entspricht, der nach den günstigsten Stellen für die Anordnung der Blitzlichtlampen sucht.

Anmerkung der Redaktion:
Der vollständige Mathematica-Code kann in diesem publizierten Artikel als pdf heruntergeladen werden:
Herbert W. Franke: „Computersimulationen zum Schichtenbild der Stalagmiten“, erschienen in: Die Höhle, Zeitschrift für Karst- und Höhlenkunde“, 51. Jg., Vol. 2/2000

Mehr Tricks und Ideen zum Programmieren mit Mathematica an der Grenze von Mathematik und Kunst im ersten Buch über die Möglichkeiten von dynamischen Prozessen:
Herbert W. Franke: “Animation mit Mathematica”, Springer, Berlin, New York, Tokio 2002