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Lyrik, in einen Kristall eingefroren

Voice Gems Astropoeticon – ein Projekt von Herbert W. Franke, Harry Yeff & Trung Bao

Die Sprachkünstler Harry Yeff und Trung Bao haben mit „Ziel im Ungewissen“ ein neues Voice Gem Astropoeticon mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz umgesetzt. Es gehört zum Lyrik-Zyklus Astropoeticon aus der Feder von Herbert W. Franke und von ihm selbst eingesprochen. Die Voice Gems basieren auf der Visualisierung der individuell unterschiedlichen Paramenter menschlicher Sprache und frieren diese in einer Kristallstruktur „ein“. Dazu werden Faktoren wie Tonhöhe, Resonanz, Obertöne und Tempo in 200.000 Datenpunkten in einem virtuellen Raum umgesetzt. Die Kooperation von Franke und dem Duo Yeff/Trung hatte 2021 mit den ersten drei Gedichten des Astropoeticon begonnen.

Herbert W. Franke begegnete dem Werk von Harry Yeff erstmals im Sommer 2021 in Linz. Beide waren Teil der Ausstellung Proof of Art im Francisco Carolinum, dem ersten Museum, das die kurze Geschichte der NFTs erzählte. Franke, der auch Höhlenforscher und Mineraliensammler ist, interessierte sich für die Arbeit von Harry Yeff und Trung Bao, die Voice Gems, und so kam es schnell zu einer Zusammenarbeit: Denn Yeff erkundigte sich nach den Möglichkeiten, Frankes Stimme als Voice Gem umzusetzen, und Franke antwortete, indem er eines seiner Stimmjuwelen schickte, ein vokales Kunstwerk. Nun muss man etwas über Franke, den Pionier des frühen Computerkunst, wissen, um seine Begeisterung für die in Kristalle eingefrorene menschliche Sprache zu verstehen: Frankes größte wissenschaftlichen Leistungen sind seine höhlentheoretischen Arbeiten, darunter die Entdeckung der Altersbestimmung von Stalagmiten mit der C14-Methode und – darauf aufbauend – seine Forschungen zur Geochronologie, die er vor allem mit Mebus Geyh vom Niedersächsischen Landesamt für Bodenforschung durchführte. Für seine wissenschaftlichen Arbeiten unternahm er zahlreiche Expeditionen, bei denen er mit Forscherteams teils viele Tage in Höhlen verbrachte, um in bisher unbekannte Tiefen vordringen zu können.

Franke, gebürtiger Wiener, begann bei seinen ersten Höhlenbegehungen als Student in den Endvierzigern in Österreich mit fotografischen Dokumentationen der Expeditionen. Sie sind gleichzeitig der Beginn seiner künstlerischen Arbeiten, die ihn in den fünfzige Jahren über die generative Fotografie zur Computerkunst führten. Das Problem bei der Höhlenfotografie war das Ausleuchten großer Höhlenräume. Damals standen noch keine Blitzgeräte zur Verfügung, für die Beleuchtung musste man chemische Mischungen auf Magnesiumbasis selbst entzünden. Was als Hobby begann, entwickelte sich schnell zur Berufsreife. Auch hier zeichnete sich Franke durch seinen Ideenreichtum aus, indem er in der Dunkelheit von Höhlen durch die gezielte Platzierung mehrerer solcher Leuchtfeuer auch große Höhlenräume in ästhetisch reizvollen Bildern sichtbar machen konnte.So wurde er schnell zu einem anerkannten Höhlenfotografen, dessen Bilder in Publikums- wie Fachzeitschriften veröffentlicht wurden, oft mit von ihm selbst verfassten Artikeln.

Höhlen-Selfie von Herbert W. Franke mit Lichteffekten aus den fünfziger Jahren (rechts) – Tropfsteinformation in der Höhle von Krasnohorska (oben) – Franke mit einem gefundenen Türkis in der chilenischen Atacama-Wüste (links).

Bis ins hohe Alter hat er in Höhlen fotografiert, aber auch in der ganzen Welt Mineralien gesammelt. So war Franke von dem Konzept von Harry Yeff und Trung Bao  fasziniert, menschliche Stimmen in Kristallstrukturen einzufrieren. Die beiden Sprachkünstler haben sich zum Ziel gesetzt, ein umfangreiches Archiv aufzubauen, denn keine Stimme ist wie die andere, sie bildet einen einmaligen, unverwechselbaren Teil menschlicher Identität und ist zudem ein Wunderwerk der biologischen Technik. 100 Muskeln setzt der Mensch ein, um zu sprechen. Sie sichtbar in kristalliner Struktur einfrieren zu können, dafür haben Yeff und Bao mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz Parameter entwickelt.

So war Franke sehr erfreut, mit einer Sprachprobe  an diesem weltweiten Projekt der Sprachvisualisierung mitzuwirken. Allerdings wollte er nicht nur irgend eine Stimmprobe zur Verfügung stellen, sondern als Grundlage für die Visualisierung Sprache anbieten, die selbst Kunst war. So entschied sich Franke, die 16 minimlistischen Gedichte des Zyklus Astropoeticon für die Voice Gems zur Verfügung zu stellen. Sie waren für ein Projekt des Weltraumkünstlers Andreas Nottebohm entstanden, der nach seinem Kunststudium ein Buch im Eigenverlag mit 16 Bildern herausbringen wollte und Franke mit der Frage kontaktiert hatte, ob er für dieses Buch einen Text schreiben könnte. Franke kam auf die Idee, für jedes abstrakte Bild ein assoziatives Gedicht zu verfassen.

In der Zusammenarbeit, die 2021 mit den ersten drei Gedichten begann, soll der gersamte Zyklus konkreter Poesie als Voice Gems Astropoeticon umgesetzt werden. Franke hatte sie anlässlich seines 80. Geburtstages im Jahr 2007 im Studio selbst eingesprochen. Das Gedicht „Ziel im Ungewissen“ wurde nun Ende März 2023 als Open Edition in der Blockchain veröffentlicht.

Ziel im Ungewissen
Sonnensegel aufgespannt
Ritt auf dem Ionenstrahl
Heimathafen: Jenseits von Raum und Zeit
Sensoren, ins Leere gerichtet
Signale aus dem Dunkelfeld
Schaltkreise in Wartestellung
Eiskristalle in den Zellen
die Adern ohne Blut
die Erinnerung getilgt
die Vergangenheit erloschen
Dasein zwischen Traum und Tod
ob es ein Erwachen gibt?
ob Hoffnung besteht?
vorn: Wolken und kosmischer Staub
dahinter vielleicht
eine Galaxis
Sternsysteme, Sonnen
Planeten, gebadet in Wärme und Licht –
Weckruf vom Tonband:
Neuland!
dahinter vielleicht:
Leere